Wissen Spiegel-Autoren wirklich mehr?

Vor einer Weile hat sich sogar der Spiegel mit unserem Thema befasst. Unter der Überschrift "Am Anfang war das Wort ;-)" beschrieb ein Herr Kollege seine Erfahrungen mit dem Chatten, berichtete von seinen virtuellen Freundschaften und Enttäuschungen, gestand seine Sucht und schwor schließlich ab. Die Zeichenfolge ;-) ist ein Emoticon, und wenn Sie, neugierige Leserin und voyeuristischer Leser, das Buch oder den Computerbildschirm im Uhrzeigersinn um 90 Grad drehen, können Sie ein augenzwinkerndes Lächeln erkennen.

Laut Spiegel folgt aber auf das ;-) vom Anfang ein :-( am Schluss. Die Kontaktaufnahme via Internet macht demnach krank und unglücklich. Der weitere Verfall von Sitten und Kultur ist nur durch eins aufzuhalten: durch das Drücken des Abschaltknopfes.

Zugegeben: Das Chatten, Flirten, Beziehungsanbahnen im Internet kann schief gehen. Aber unter uns: Kann es das im wirklichen Leben nicht auch? Sie werden nicken, an traurige Erlebnisse denken und mit mir einer Meinung sein, dass kaum eine Zeitung wegen schiefgegangener Kontaktaufnahmen im wirklichen Leben ernsthaft von weiteren Versuchen abraten würde. Man nähme sie nicht mehr ernst. Doch ich brauchte eine Weile, um das zu verstehen.

Der Spiegel-Artikel hatte mir zugesetzt. Aber dann hörte ich die Geschichte von Kirsten aus D. und Uwe aus K. Beide hatten sich beim Chatten kennengelernt und sich für ein Treffen in B. verabredet. Kirsten aus D. verließ ihren Freund, reiste zum Date mit Uwe aus K., und beide glaubten, sie hätten einander gefunden. Diese Geschichte machte auch mir Mut. Ich schrieb auf Kontaktanzeigen.

Das Internet ist inzwischen voll von Kontaktgesuchen. Nahezu wöchentlich kommen neue, nicht immer seriöse Seiten mit Kontaktanzeigen hinzu. Klassiker sind Seiten wie www.date.de oder die mehr und mehr mit kommerziellen Anzeigen gefüllte allesliebe.com, auf denen sie ihn, er sie, sie sie oder er ihn sucht. Neben diesen, mit der Konkurrenz in Printmedien vergleichbaren und sie eines nicht sehr fernen Tages auch verdrängenden Seiten warten andere mit Besonderheiten auf.

Eine dieser Besonderheiten ist die "Flirtshow" des nach Eigenwerbung ersten deutschen Internet-Kaufhauses www.netzmarkt.de/flirtshow. In diesem Kontaktmarkt müssen Inserent und Inserentin ein Foto veröffentlichen. Schon das ist unterhaltsam. Aber dass in der Flirtshow auch die Antworten veröffentlicht werden, macht die Lektüre - je nach Stimmungslage - entweder noch unterhaltsamer oder niederschmetternd. Viele Autorinnen und Autoren von Antworten fassen sich ziemlich kurz. So wie Joshua, der an Barbara schrieb

Also Babs, die Anworten die du hier bekommen hast, beschämen mich als Mann aufs tiefste, so total dumm und einfallslos ! Also wenn du trotz all dieser dummen Nachrichten meine noch lesen solltest, würde ich mich freuen, wenn du dich mal meldest !

Das soll nicht heißen, dass nur lange Antworten zum Erfolg führen. Das gleiche gilt übrigens für lange Anzeigentexte. So wie das immer mal wieder ins Netz gestellte Inserat von der "studierten Emanze" aus dem Rheinland, die sich und ihre Wünsche ausführlich charakterisierte

studierte Emanze, kreatives Multitalent, mehrsprachig, aber als Hausfrau oder Dame völlig ungeeignet (benutzt die Bohrmaschine viel öfter als das Bügeleisen), wünscht sich eine eher symbiotische als distanzierte Beziehung mit einem seelenverwandten Lebenspartner: ebenfalls studiert; etwa gleichaltrig; gewollt kinderlos und ohne Haustiere; Nichtraucher; Atheist und auch gegen esoterischen Blödsinn immun; das Gegenteil von einem Macho; partnerschafts- und bindungsfähig, willig, alles fair zu teilen; monogam, treu, loyal, ehrlich, aufrichtig, offen, empathisch, sensibel und eher zurückhaltend, das genaue Gegenteil von Casanova, also kein Anmachertyp und nicht promiskuid (aber aus Überzeugung und nicht mangels Gelegenheit!); ansonsten politisch 68er, links bis grün; Epikureer (aber kein plumper Hedonist!) statt konsumabhängig; intellektuell anspruchsvoll aber materiell bescheiden (Fußball sollte unter seinem Niveau sein!); mehr Zeit als Geld (möglichst Aussteiger oder arbeitslos) und ohne Karrierestreben; keine "gepflegte Erscheinung" (ich finde Krawattenträger lächerlich) sondern eher Typ kleiner bärtiger Rübezahl; ein bißchen Interesse an Psychologie wäre nicht schlecht; unternehmungslustig und reisebegeistert (aber besser wild zelten als Luxushotel); multikulturell interessiert und mit Freude an Folklore/World-Music.

Ich weiß nicht, ob sie gefunden haben, was sie suchen. Aber ganz schlichte Antworten landen garantiert im Papierkorb.

Hallo Uschi, ich habe Dein Bild gesehen und war hin und weg. Mail doch mal. Tschau, Jürgen

ist so eine schlichte Antwort. Jürgen hat sie, so beweist die "Netzmarkt-Flirtshow", auch an Carola, Tanya und Sabine geschickt. Auch ein gewisser Thomas setzt auf Masse.

Hi, du süßes Wesen, ich bin beim Surfen zufällig auf deine Anzeige gestoßen und traute meinen Augen nicht. Und deine Hobbies entsprechen voll den meinen. Ich bin 29, wohne in Düsseldorf und arbeite in der Computerbranche. Meine Freundin hat mich gerade verlassen, weil sie sich immer über meine Arbeitszeiten geärgert hat. Aber ich habe ihr gesagt ...

Was folgt, wird zu intim. Auch Thomas hatte den gleichen Text an Sabine, Carola und Tanya geschickt. Er wusste offensichtlich nicht, dass er allen zugänglich ist. Oft gewählt, aber sicher erfolglos ist auch folgender Standardbrief:

Hallo Uschi, nach den vielen Zuschriften habe ich bestimmt keine Chance mehr. Was muss ich tun, damit du mir (Stefan, 31, einsam in Berlin) antwortest?

Für den Namen Stefan könnte selbstverständlich auch der Name Andrea stehen. Frauen schreiben nur seltener, aber nicht generell besser. Mit dieser Vorbereitung nahm ich all meinen Mut zusammen und schrieb bald die erste Antwort. Übrigens: Kirsten aus D. und Uwe aus K. haben sich nach ihrem ersten Treffen verkracht. Kirsten aus D. musste erkennen, dass Uwe aus K. ein Hallodri ist. Als ich das hörte, dachte ich für einen Moment, dass Spiegelautoren doch mehr wissen. Doch ein paar Tage später griff ich schon zum Telefonhörer.

© Christoph Köster 1999