Der große Lauschangriff namens ICQ

Als ich ankam, machte ich das, was ich immer mache: Ich schaltete meinen Rechner an (fuhr ihn hoch, ließ ihn starten ...) und ging online. Ich fand fünf Mails von Katharina in meiner Mailbox.

Die erste: Es ist gleich sieben Uhr. Ich bin so gespannt auf unser erstes Treffen und freue mich. Deine Kate ...

Die zweite: Es ist schon fast halb acht. Sag mal, bist du immer so unpünktlich? Katharina ...

Die dritte: Du treulose Tomate! Seit drei Stunden warte ich jetzt schon auf dich, und du lässt dich nicht blicken. Es soll mir eine Lehre sein, jemanden aus dem Internet zu mir nach Hause einzuladen. Und lass dir bloß nicht einfallen, mich noch einmal online zu belästigen! ...

Die vierte, geschickt kurz nach Mitternacht: Liebster Zausel, wahrscheinlich tue ich dir völlig unrecht. Ich habe eben in den Nachrichten von dem Auffahrunfall auf der A 1 gehört. Ich hoffe, dass dir nichts passiert ist und könnte mich ohrfeigen für die Beschimpfung von vorhin. Mit besorgten Grüßen, deine K. ...

Die fünfte, geschrieben um zwei Uhr nachts: Du verdammtes Arschloch, es gilt der Text der vorletzten Mail!

Durch einen etwas ausführlicheren Text (rund 28 Druckseiten) ließ sie sich besänftigen. (Sie fragen: Wieso telefonieren die nicht einfach? Ich antworte: Netizens telefonieren äußerst ungern miteinander.) Katharina schrieb schließlich: Mit ICQ wäre das nicht passiert. Ich: *kratzamkopf*, *räusper*, *verwundertguck* was ist ICQ?

Nur zwei Stunden später hatte ich das zurzeit noch kostenlose Programm (www.icq.com) heruntergeladen und mich angemeldet. ICQ (sprich: I seek you) ist so etwas ähnliches wie die Buddy-Lists von AOL, die auch in neueren Netscape-Versionen enthalten sind, und der freiwillige große Lauschangriff aller echten Netizens. Sie können miteinander ihre ICQ-Nummern austauschen und sehen dann, wann der andere online ist. Wer die auch über ICQ verschickte lästige Werbemail-Plage der Netze in Kauf nimmt, kann auf den "White Pages" nach neuen Partnern für lebenslange Freundschaften Ausschau halten. Auf diesen "White Pages" sind alle Informationen einzusehen, die ICQ-Nutzer über sich preisgeben. Auch Smarty hatte etwas preisgegeben.

In der (niedrigen) Absicht, einen weiblichen Netizen anzubaggern, war ich auf sie gestoßen. Ich suchte in den "White Pages" nach "female" und "Bremen" und fand Smarty. Laut ICQ-Steckbrief hieß Smarty Maria, war 29, interessierte sich für Inline-Skating, Stephen Hawking und Cultural events. Das klang gut. Doch vor allem: Sie lebte in Bremen. In Gedanken an eine Verabredung noch am gleichen Abend (ja, ich war Katharina für einige Stunden untreu geworden), schrieb ich Smarty:

Selbst mit meinem knarzenden Schrottfahrrad überhole ich alle Skater auf dem Wümmedeich. Kannst Du mir verraten, was am Skaten so gut ist, wenn's die Geschwindigkeit nicht ist?

(Solche Fragen werden durchaus beantwortet.)

Eine halbe Minute später kam Smartys erste Message an mich: "???" Was soll das, dachte ich, und war ratlos. Grübelte. Schaute noch einmal in Smartys ICQ-Steckbrief nach, und mir ging ein Licht auf: Ich hatte Kontakt mit einem Menschen aus Bremen, Georgia. Nach diesem anstrengenden Tag war ich nicht mehr zu einem Dialog auf Englisch in der Lage, schrieb nur kurz von hard work und I have to become a plenty of sleep. cu (kurz für: see you) cu and good nite.

Ich träumte von Katharina.

Am nächsten Morgen fuhr ich erneut zu ihr nach Hamburg.

© Christoph Köster 1999