Heidi und die Skrupel einer Schwindlerin

Tania war inzwischen zu meinem zweiten Ich geworden. Meine Sucht trieb mich in diesen Tagen immer häufiger in die Chat-Foren des Internet. In diesen zahllosen virtuellen Räumen des globalen Plapperns tummeln sich Süchtige aus aller Welt. Die Grenzen von Tag und Nacht sind genauso aufgehoben wie die Landesgrenzen. Mit Gertrud aus Honduras habe ich mich immer nach dem Mittag essen verabredet. Das heißt: Sie hatte gerade Mittag gegessen. Ich proteste schon zur Nacht. Für Gertrud aus Honduras war ich natürlich nicht Tania. Aber vielleicht war Gertrud aus Honduras auch nur für mich eine Tochter deutschstämmiger Einwanderer, die ihr Deutsch mit einem charmanten spanischen Akzent schrieb.

Wenn ich mich in Tania verwandelte, ließ ich mir die Haare lang wachsen, und meine Augen wurden grün-blau. Tania war 25, kam aus Oy-Mittelberg, studierte irgendwas und hatte ein Hobby, das exotisch genug für einen Auftritt in Jürgen von der Lippes "Geld oder Liebe"-Show war. Tania hatte wahlweise große und manchmal kleine Brüste und kokettierte damit. Denn nirgendwo kommt es so auf das Äußere an als da, wo selbst das Äußere nur Illusion ist. Erst bei Max_15 hatte Tania Skrupel. Die erinnerten sie an das erste Mal. Beim ersten Mal, als ich mich unter ihrem Namen einloggte, glaubte ich, der Schwindel würde schon nach dem ersten Satz auffliegen. Ich dachte, es müsste irgendeine geheime Botschaft geben, an der ich zu erkennen wäre. Doch es gab diese Botschaft nicht. Niemand hat je etwas gemerkt.

Mit Stefan_Ulm habe ich noch geflüstert. Flüstern ist, wenn die anderen im Chat-Forum den Dialog nicht lesen können. Irgendein Administrator wird ihn bestimmt lesen können, aber darüber machte ich mir keine ernsthaften Gedanken. Auch an mögliche Zeugen der Gespräche in den Hinterzimmern und Privaträumen, in denen ich Nanjuk, Asterix und unzählige andere Opfer verführte, dachte ich nicht.

Zunächst ist es witzig, sie zum äußersten zu bringen. Doch kaum ein Reiz verblasst so schnell wie der Reiz des virtuellen Sex. Man kann beim Chatten eben schlecht mit der Nase tippen. Ha ha. Auf Dauer ist das Hinhalten viel ergiebiger. Tania lockte ihre Opfer erst und wies sie dann ab. Sie brachte dieses Spiel zur Perfektion. Oft dauerte es Stunden, manchmal sogar Wochen. Ihr fielen immer neue Bedingungen ein, um Nanjuk, Asterix und den anderen das ersehnte Foto möglichst lange vorzuenthalten. Und als sie danach genug von den Komplimenten hatte, bestach sie den Chat-Master, und Nanjuk, Asterix oder ein anderer waren bald für immer verschwunden. Zunächst bedauerte sie ihre Opfer, wenn sie sich mühsam unter ihrem Alias wieder einwählten. Doch tatsächlich lachte sie sich kaputt. Es machte Tania Spaß, die Sau rauszulassen. Natürlich war sie eleganter als die vielen Spinner, die einen Chat mit plumpen Beschimpfungen und immer wiederholten Sätzen lahm legen wollen. Tania führte ihre Opfer an der langen Nase herum. Doch dann kam Max_15 und sollte alles verändern.

In ihrer inzwischen ausgefeilten Fragetechnik fand Tania heraus, dass Max_15 aus Bochum stammte, auf "Star Trek" stand, rund um die Uhr am Rechner saß und tatsächlich erst 13 war. Er brannte darauf, erotische Erfahrungen zu machen. Doch Tania hatte Skrupel. Für einige Wochen wurde sie zu seiner älteren Schwester und versuchte, ihm das echte Leben schmackhaft zu machen. Sie gab ihm Hinweise, erzählte aus der eigenen Jugend, schrieb ihm im Lauf der Wochen ein ganzes Buch von Empfehlungen. Doch es nützte nichts. Wie konnte es auch?

Denn möglicherweise war ich selbst inzwischen Max_15. Doch wer war dann Tania? Manche Fragen sind nie mit letzter Sicherheit zu klären. Ich zweifelte, war ratlos, trank zu viel. Ich beschloss, beide für immer im Gedächtnis zu begraben. Der Protestant in mir verordnete eine zweimonatige Internet-Abstinenz. So endete die erste Phase meiner Chat-Sucht, und kurz darauf begann eine zweite. Sieben Monate später klingelte mein Telefon. Heidi war dran.

© Christoph Köster 1999