Flirtmarkt Internet: Alles Liebe.com

"Was?", fragte meine jugendliche Nichte neulich, "icq ist schon so alt!?" Icq, sprich I seek you, also "ich suche dich" war eine Pionierin. Sie war da, lange bevor es Schüler oder Studi VZ gab. Vor zehn oder zwölf Jahren hatte ich mich bei ihr angemeldet. Ich wollte Kontakte knüpfen. Weltweit. Und stürzte mich in ein Abenteuer, das rund um den Globus führte ...

Kein Bock mehr auf Lebensgeschichte

Das passiert jedem mal. Die Freundin macht Schluss. Oder ich mache mit der Freundin Schluss. Oder Sie, werte Leserin, verehrtester Leser, machen Schluss. Mit wem auch immer. Denn immer macht irgendwer mit irgendwem Schluss. Statistiker haben ausgerechnet, dass im Schnitt alle drei Sekunden irgendwer mit irgendwem Schluss macht.

Nach diesen Berechnungen ist das Schlussmachen (das Sich-auseinander-gelebt-haben, das "Duuuu, lass uns doch auf die sichere Bank der Freundschaft setzen"-sagen oder das Sich-nach-dreijähriger-Streiterei-in-totaler-Feindschaft-trennen) sogar häufiger der Fall, als dass jemand voller Entzücken und Stolz über eine neue aufregende Eroberung laut "Got her!" oder "Got him!" ruft. Schätzungsweise im Jahr 2117 gibt es demnach überhaupt keine Beziehungen (Ehen, Lebensabschnittsbegleitungen) mehr. Aber das ist noch eine Weile hin. An jenem Tag im 20. Jahrhundert jedenfalls war auch ich ein Fall für die Statistik, denn es war mal wieder aus, Ende, vorbei.

Natürlich war ich traurig. Sogar sehr. Aber vor allem hatte ich die Lust verloren. Die Lust darauf, demnächst wieder ganz von vorne anfangen zu müssen. Wenn Sie nicht zu den wenigen erschreckend glücklichen Ausnahmen zählen, die seit 16 Jahren in die gleiche Frau oder den gleichen Mann verliebt sind, wissen Sie, wovon ich rede.

Ich rede vom Erzählen der Lebensgeschichten: "Sag mir doch mal, wie das damals mit Susanne war?!" "Susanne? Ach, Du meinst Sabine!"

Und ich rede vom Marotten erforschen: "Weißt Du, ich finde, Du könntest Dir vor dem Essen die Hände waschen. Und wo wir schon mal dabei sind: Deine Marmeladenspuren in der Butter finde ich einfach eklig."

Rein statistisch gesehen erzählt man seine Lebensgeschichte im Lauf eines Liebeslebens inzwischen übrigens 28 mal in Langform. Ich hatte darauf wirklich keine Lust mehr. Gar keine. Das dauerte lange, sehr lange.

Also ungefähr drei Tage. Dann hatte ich mir eine neue und fesselnde Version der Geschichte meines durchschnittlichen Lebens zurechtgelegt. Denn ich war plötzlich zu allem fest entschlossen. Mein Herz stand offen wie ein Scheunentor. Ich hatte nämlich überhaupt nicht vor, den Rest meiner Abende und Nächte beim Surfen im Internet allein vor dem Computer zu verbringen und mein Geld für hohe Telefonrechnungen auszugeben. Nein, ich wollte verschwenderisch, generös, galant, kurzum: ein Mann sein und meine künftige Herzdame in dekadent noble Restaurants einladen, ihr unerschwinglich teure Perlenketten kaufen oder immer eine Flasche La Veuve zur Feier unserer künftigen Jahrestage im Kühlschrank stehen haben. Doch wo sollte ich nach ihr suchen? In der Disco? Im Aktzeichnen-Kurs? An der Kasse im Supermarkt? Nein. Diesmal machte ich aus der Not eine Tugend und entdeckte die wichtigste Errungenschaft des Internet: Es ist eine Kontaktbörse.

© Christoph Köster 1999

Die Meuterei auf der Bounty

Ich weiß nicht mehr, wann ich damit angefangen habe, immer mehr Abende und Nächte vor dem Computer zu verbringen und immer höhere Telefonrechnungen zu bezahlen. Das Tor zur Welt der neuen Netze - ein Modem also - hatte ich mir schon vor Jahren gekauft, doch von einer Sucht konnte damals noch nicht die Rede sein. Mein erstes Modem war so langsam, dass selbst die Übertragung einer E-Mail Stunden dauerte. Doch inzwischen habe ich drei Modems verschlissen und kann mit einigem Recht sagen: Ich habe fast alles hinter mir, was man an Abenden und in Nächten vor dem Computer hinter sich bringen kann.

Als ich vor ein paar Jahren mit dem Surfen anfing, war die Suche nach Informationen im Internet ziemlich mühselig. Doch heute ist der komplette Untersuchungsbericht - sagen wir -über den Mord an John F. Kennedy nur wenige Mausclicks entfernt. Und wenn man - wie ich - manche Filme nicht oft genug sehen kann und nach dem 23sten Gucken von "Meuterei auf der Bounty" endlich wissen will, ob die Geschichte von Fletcher Christian und seinen Leuten wahr ist, wird man im Internet fündig.

Auf der Seite http://library.puc.edu/pitcairn ist alles Wissenswerte über das weitere Schicksal der Meuterer nachzulesen. Und bei solchen Erfolgserlebnissen fängt man bald an, nach den krudesten Themen und Begriffen zu suchen. Und je häufiger diese Erfolgserlebnisse werden, desto mehr wächst die Neugier auf alles, was sich mit Computer, Modem, Maus und Co. anstellen lässt. Die Traumfrau finden zum Beispiel.

© Christoph Köster 1999

Die lange Nacht von Detmold

Ja, ja. Männer sind so. Sie wollen immer nur das eine, und nachdem ich die vielen nützlichen Eigenschaften des Internet - die Online-Telefonauskunft (www.teleauskunft.de), die neuen Indizien für Leben auf dem Mars (www.nasa.gov) oder Satellitenaufnahmen von Bremen, Buxtehude oder Groß Bramstedt (www.terraserver.com) - erkundet hatte, wollte auch ich nur das eine: sie! Und auf dem Weg zu ihr ergänzte oder ersetzte ich meinen Bekanntenkreis aus dem echten Leben mehr und mehr durch virtuelle Bekanntschaften. Ich wurde vom Citizen zum Netizen.

Damals, die Internet-Eisenzeit, also die 90er Jahre. Ein milder Frühlingswind wehte durch das halb geöffnete Fenster, als ich zum ersten Mal süchtig zu werden begann. Schuld daran waren eine Tätigkeit namens Chatten und genau genommen das ZDF. Denn wie im wirklichen Leben ist auch in den neuen Netzen der erste Schuss oft kostenlos. Und das Zweite Deutsche Fernsehen hat ihn mir gesetzt. "Nach der Sendung können Sie mit den Redakteuren chatten", begann der Moderator der WISO-Sendung seine Absage, und ich hatte noch gar keine Ahnung, was das ist. Aber ich war neugierig.

So dauerte es nicht lange, bis ich auf der WISO-Seite der ZDF-Homepage (www.msnzdnet.de) gelandet war und mit den Redakteuren chatten wollte. Das ging aber nicht. Zum Chatten (Schwätzen, Plappern) brauchte man damals nämlich ein besonderes Programm (mit Browsern wie dem Internet-Explorer 4 aufwärts oder Netscape 5 und höher kann man auch ohne Zusatzprogramm auf Webseiten wie www.friends-online.com chatten). Das ZDF wies mir den Weg zum kostenlosen Download eines Chat-Programms, und durch diese Mischung aus Abweisung (ohne Programm geht nichts) und Angebot (das Programm ist nur einen Click entfernt) war es um mich geschehen: Ich hätte jetzt alles dafür getan, an ein Chat-Programm heranzukommen. Selbst einen zweistündigen Dateidownload hätte ich in Kauf genommen.

Tatsächlich dauerte der Download nur eine Stunde und 50 Minuten. Und als ich das Chat-Programm endlich zum Laufen gebracht hatte, lagen die Redakteure der WISO-Sendung längst im Bett (oder saßen an ihrem heimischen Computer, um heruntergeladene Programme zum Laufen zu bringen). So verpasste ich die Gelegenheit, mit echten WISO-Redakteuren über die Vorzüge der linearen Abschreibung von abschreibungspflichtigen Arbeitsmitteln zu plaudern und sollte sie auch nie mehr nutzen. Denn solche Themen gelten unter Chattern als unchatgemäße Themen, wie ich bald in einem Forum namens German_Chat auf dem Microsoft-Server erfahren sollte. Die Vögel zwitscherten draußen zwar schon, als ich mich endlich angemeldet hatte. Aber ich hatte es geschafft. Franz - so nannte ich mich - wurde Chatter.

Kurt Cobain > Hallo Franz, willkommen bei German_Chat

Huch? Was war das? Jemand hat mich angesprochen. Ich war erstaunt. Und nervös. Und ich tippte schüchtern meine ersten Zeichen:

Hallo Kurt Cobain. Ich bin neu hier und muss mich erstmal umsehen.

Kurt Cobain schickte mir als sogenanntes Emoticon ein verständnisvolles Grinsen zu: ;-).

Und ich habe mich umgesehen. Ich fand heraus, dass Kurt Cobain ein Gastgeber (oder auch Chatmaster) war und das Recht hatte, Leute rauszuschmeißen. Ich merkte schnell, dass Co-Gastgeberin Sabine rund um die Uhr am Computer sitzen musste und dass sich Dauerchatter einmal im Jahr zu Real-Life-Treffen in Hannover, Nürnberg oder Detmold verabreden und sich danach Fotos davon mailen. Von Schüchternheit war bald keine Spur mehr, ich entdeckte Nebenzimmer und die Flüstertaste und chattete munter in Gesprächen wie dem folgenden mit.

pille: hi

tania: rehi

Pille k8: hallo tania

philipp_23: hi tania, wo kommst denn du her?

der_wolf: hallo tania, sollen wir uns nicht mal in ein Nebenzimmer verziehen *grins*

k8: endlich mal ne braut hier!

der_wolf: hej tania, was denkst du über ne schnelle Nummer *lechz*

tania is away

der_wolf: Mist, weg ist sie

k8: sind denn jezz gar keine frauen mer hier?

Zombie: Doch Du, Du Schwuchtel!

Der Chatmaster hat Zombie aus dem Raum gewiesen

pille: das wurde aber auch Zeit

philipp_23 schiebt k8 mal ein Bier rüber

k8 bedankt sich artig und sacht prösterchen

pille: haste auch eins für mich?

philipp_23 schiebt auch pille ein Bier rüber

pille sagt danke und prost. Auf Tania!

k8: auf Tania!

Tania blieb nicht für immer fort. Tania holte sich nur ein Glas echten Weins aus dem Kühlschrank. Das wusste ich ganz genau. Denn ich selbst war Tania. Und Tania sollte schon bald wiederkommen, um fürchterliche Rache zu nehmen.

© Christoph Köster 1999

Heidi und die Skrupel einer Schwindlerin

Tania war inzwischen zu meinem zweiten Ich geworden. Meine Sucht trieb mich in diesen Tagen immer häufiger in die Chat-Foren des Internet. In diesen zahllosen virtuellen Räumen des globalen Plapperns tummeln sich Süchtige aus aller Welt. Die Grenzen von Tag und Nacht sind genauso aufgehoben wie die Landesgrenzen. Mit Gertrud aus Honduras habe ich mich immer nach dem Mittag essen verabredet. Das heißt: Sie hatte gerade Mittag gegessen. Ich proteste schon zur Nacht. Für Gertrud aus Honduras war ich natürlich nicht Tania. Aber vielleicht war Gertrud aus Honduras auch nur für mich eine Tochter deutschstämmiger Einwanderer, die ihr Deutsch mit einem charmanten spanischen Akzent schrieb.

Wenn ich mich in Tania verwandelte, ließ ich mir die Haare lang wachsen, und meine Augen wurden grün-blau. Tania war 25, kam aus Oy-Mittelberg, studierte irgendwas und hatte ein Hobby, das exotisch genug für einen Auftritt in Jürgen von der Lippes "Geld oder Liebe"-Show war. Tania hatte wahlweise große und manchmal kleine Brüste und kokettierte damit. Denn nirgendwo kommt es so auf das Äußere an als da, wo selbst das Äußere nur Illusion ist. Erst bei Max_15 hatte Tania Skrupel. Die erinnerten sie an das erste Mal. Beim ersten Mal, als ich mich unter ihrem Namen einloggte, glaubte ich, der Schwindel würde schon nach dem ersten Satz auffliegen. Ich dachte, es müsste irgendeine geheime Botschaft geben, an der ich zu erkennen wäre. Doch es gab diese Botschaft nicht. Niemand hat je etwas gemerkt.

Mit Stefan_Ulm habe ich noch geflüstert. Flüstern ist, wenn die anderen im Chat-Forum den Dialog nicht lesen können. Irgendein Administrator wird ihn bestimmt lesen können, aber darüber machte ich mir keine ernsthaften Gedanken. Auch an mögliche Zeugen der Gespräche in den Hinterzimmern und Privaträumen, in denen ich Nanjuk, Asterix und unzählige andere Opfer verführte, dachte ich nicht.

Zunächst ist es witzig, sie zum äußersten zu bringen. Doch kaum ein Reiz verblasst so schnell wie der Reiz des virtuellen Sex. Man kann beim Chatten eben schlecht mit der Nase tippen. Ha ha. Auf Dauer ist das Hinhalten viel ergiebiger. Tania lockte ihre Opfer erst und wies sie dann ab. Sie brachte dieses Spiel zur Perfektion. Oft dauerte es Stunden, manchmal sogar Wochen. Ihr fielen immer neue Bedingungen ein, um Nanjuk, Asterix und den anderen das ersehnte Foto möglichst lange vorzuenthalten. Und als sie danach genug von den Komplimenten hatte, bestach sie den Chat-Master, und Nanjuk, Asterix oder ein anderer waren bald für immer verschwunden. Zunächst bedauerte sie ihre Opfer, wenn sie sich mühsam unter ihrem Alias wieder einwählten. Doch tatsächlich lachte sie sich kaputt. Es machte Tania Spaß, die Sau rauszulassen. Natürlich war sie eleganter als die vielen Spinner, die einen Chat mit plumpen Beschimpfungen und immer wiederholten Sätzen lahm legen wollen. Tania führte ihre Opfer an der langen Nase herum. Doch dann kam Max_15 und sollte alles verändern.

In ihrer inzwischen ausgefeilten Fragetechnik fand Tania heraus, dass Max_15 aus Bochum stammte, auf "Star Trek" stand, rund um die Uhr am Rechner saß und tatsächlich erst 13 war. Er brannte darauf, erotische Erfahrungen zu machen. Doch Tania hatte Skrupel. Für einige Wochen wurde sie zu seiner älteren Schwester und versuchte, ihm das echte Leben schmackhaft zu machen. Sie gab ihm Hinweise, erzählte aus der eigenen Jugend, schrieb ihm im Lauf der Wochen ein ganzes Buch von Empfehlungen. Doch es nützte nichts. Wie konnte es auch?

Denn möglicherweise war ich selbst inzwischen Max_15. Doch wer war dann Tania? Manche Fragen sind nie mit letzter Sicherheit zu klären. Ich zweifelte, war ratlos, trank zu viel. Ich beschloss, beide für immer im Gedächtnis zu begraben. Der Protestant in mir verordnete eine zweimonatige Internet-Abstinenz. So endete die erste Phase meiner Chat-Sucht, und kurz darauf begann eine zweite. Sieben Monate später klingelte mein Telefon. Heidi war dran.

© Christoph Köster 1999

Heidi, der Pfaffe und die Blizzards über Chicago

Ich hatte Tania, die mein zweites und dunkles Ich geworden war, verbannt. Ich schickte die Tyrannin aller Chatter auf eine Reise zu den Pitcairn-Inseln. Dieses Archipel, das man in guten Atlanten zwischen Tahiti und den Osterinseln findet, war wegen eines kartographischen Fehlers einst die Zuflucht der Meuterer auf der Bounty. Jemand hatte mir erzählt, dass auf den Pitcairn-Inseln, die im Internet eifrig um Touristen werben, jeder mit jedem verwandt ist. Nur einmal im Monat kommt ein Schiff vorbei. Ich dachte: Das ist gut. Tania wollte Familie, und so waren die Pitcairn-Inseln genau der richtige Ort für die dunklen Seiten in mir. Ihre letzte Mail erreichte mich aus dem Institut Francais auf Tahiti. Sie schrieb, dass sie einen Typen kennengelernt hätte, der aussah wie der junge Marlon Brando in der Rolle des Fletcher Christian in der "Meuterei auf der Bounty". Ich wünschte ihr Glück, doch danach hörte ich nichts mehr von ihr.

Meine Erkundungstouren durch die Privatsphären des Internet und seiner Ableger waren nun ganz sachlich. Weitere Exzesse hatte ich mir - oder war es Julia_34, die Pastorentochter aus Schrunz? - verboten. Nie wieder wollte ich unter Pseudonym Jungs verführen. Nie wieder wollte ich mich unter meinem anderen Aliasnamen mit Christine, einer angeblich 46-jährigen Hure aus Neuchatel treffen, um Jagd auf Spießer im Netz zu machen. Eine innere Stimme drohte andernfalls, mir drei Wochen lang einen Modern-Talking-Hit ins Ohr zu setzen. Ich gab mich geschlagen. Wenig später lernte ich Heidi kennen.

Es begannen die Wochen, in denen ich mich in den Chat-Foren nicht ohne Grund als Paulus anmeldete. Anfangs begrüßten mich die anderen noch mit Sprüchen. "Bist Du Pfaffe oder was?" war noch der harmloseste. Doch selbst meine schärfsten Widersacher schickten mir bald Mails und fragten um Rat. Ich tröstete Inka, als ihr Freund mit ihr Schluss machte und ihr ankündigte, fortan nur noch alle zwei Tage mit ihr chatten zu wollen. Ich half Marius_19 durchs Abitur. Und Katharina und Stefan aus Münster führte ich durch eine "Kleine Schule des Lokaljournalismus". Ich gab Unterricht, Trost und Lebenshilfe, und ich leistete Hausfrauen Gesellschaft. Ich konnte es mir selbst nicht erklären, aber Paulus hatte eine ungeheure Wirkung auf Hausfrauen. Auch Heidi war Hausfrau.

Sie stammte aus Gegend irgendwo in Norddeutschland. Dort werden die Ortschaften Straßendörfer genannt und sind so lang wie die Kanäle, die diese Landschaft durchziehen. Man kennt sich und weiß doch zu schweigen. Es soll dort Nachbarn geben, die nach einem Streit 23 Jahre lang nicht mehr miteinander geredet haben. Gleich nach der Schule ist Heidi ausgewandert. Für ein Au-pair-Jahr ging sie in die Nähe von Chicago. Und dort ist sie für die nächsten Jahre geblieben.

Als ich sie kennenlernte, tobte ein Blizzard über ihr Haus hinweg. Sie erklärte mir, was ein Blizzard ist, und dann vertagten wir uns auf den nächsten Abend, der für mich schon Nacht war. Ganz am Anfang fragte ich noch, was sie zu tun hatte. "Essen kochen, mein Mann kommt gleich", war die immer gleiche Antwort.

In den nächsten Nächten erfuhr ich, dass Heidi mit 19 schwanger wurde und jetzt, mit 32, drei Kinder hat und eine Ausbildung beginnen will. Ihr Mann, der eine sehr nudellastige Ernährung bevorzugte (gern: Ravioli in Tomatensauce, auch gern: Maccheroni in Tomatensauce), hatte etwas gegen Heidis Chatterei. Doch sie wollte ihr Deutsch nicht verlernen, erklärte sie ihm. Vor allem das Deutsch, das gute Freunde miteinander sprechen. Aber das erklärte sie ihm nicht.

Im Lauf der Monate erfuhren Heidi und ich alles voneinander. Ich stellte sie mir selbstbewusst, kosmopolitisch und durchs Leben gebildet vor. Ich wusste, sie würde nicht bei ihrem Mann bleiben. Sie wollte mehr. Vielleicht wollte sie mich.

Eines Tages klingelte das Telefon. Heidi meldete sich. Ich hörte ihre Stimme. Ich war sprachlos. Denn sie klang furchtbar. So fiepsig. So unsicher. So ungebildet. Also eigentlich ganz normal. Doch Heidi hat eine Grenze überschritten, und das hätte sie nicht tun sollen. Wäre sie bloß meine Freundin aus Chicago geblieben. Doch sie hat angerufen. Und ich habe sofort alle meine Internet-Konten und meine Telefonnummer geändert.

© Christoph Köster 1999

Wissen Spiegel-Autoren wirklich mehr?

Vor einer Weile hat sich sogar der Spiegel mit unserem Thema befasst. Unter der Überschrift "Am Anfang war das Wort ;-)" beschrieb ein Herr Kollege seine Erfahrungen mit dem Chatten, berichtete von seinen virtuellen Freundschaften und Enttäuschungen, gestand seine Sucht und schwor schließlich ab. Die Zeichenfolge ;-) ist ein Emoticon, und wenn Sie, neugierige Leserin und voyeuristischer Leser, das Buch oder den Computerbildschirm im Uhrzeigersinn um 90 Grad drehen, können Sie ein augenzwinkerndes Lächeln erkennen.

Laut Spiegel folgt aber auf das ;-) vom Anfang ein :-( am Schluss. Die Kontaktaufnahme via Internet macht demnach krank und unglücklich. Der weitere Verfall von Sitten und Kultur ist nur durch eins aufzuhalten: durch das Drücken des Abschaltknopfes.

Zugegeben: Das Chatten, Flirten, Beziehungsanbahnen im Internet kann schief gehen. Aber unter uns: Kann es das im wirklichen Leben nicht auch? Sie werden nicken, an traurige Erlebnisse denken und mit mir einer Meinung sein, dass kaum eine Zeitung wegen schiefgegangener Kontaktaufnahmen im wirklichen Leben ernsthaft von weiteren Versuchen abraten würde. Man nähme sie nicht mehr ernst. Doch ich brauchte eine Weile, um das zu verstehen.

Der Spiegel-Artikel hatte mir zugesetzt. Aber dann hörte ich die Geschichte von Kirsten aus D. und Uwe aus K. Beide hatten sich beim Chatten kennengelernt und sich für ein Treffen in B. verabredet. Kirsten aus D. verließ ihren Freund, reiste zum Date mit Uwe aus K., und beide glaubten, sie hätten einander gefunden. Diese Geschichte machte auch mir Mut. Ich schrieb auf Kontaktanzeigen.

Das Internet ist inzwischen voll von Kontaktgesuchen. Nahezu wöchentlich kommen neue, nicht immer seriöse Seiten mit Kontaktanzeigen hinzu. Klassiker sind Seiten wie www.date.de oder die mehr und mehr mit kommerziellen Anzeigen gefüllte allesliebe.com, auf denen sie ihn, er sie, sie sie oder er ihn sucht. Neben diesen, mit der Konkurrenz in Printmedien vergleichbaren und sie eines nicht sehr fernen Tages auch verdrängenden Seiten warten andere mit Besonderheiten auf.

Eine dieser Besonderheiten ist die "Flirtshow" des nach Eigenwerbung ersten deutschen Internet-Kaufhauses www.netzmarkt.de/flirtshow. In diesem Kontaktmarkt müssen Inserent und Inserentin ein Foto veröffentlichen. Schon das ist unterhaltsam. Aber dass in der Flirtshow auch die Antworten veröffentlicht werden, macht die Lektüre - je nach Stimmungslage - entweder noch unterhaltsamer oder niederschmetternd. Viele Autorinnen und Autoren von Antworten fassen sich ziemlich kurz. So wie Joshua, der an Barbara schrieb

Also Babs, die Anworten die du hier bekommen hast, beschämen mich als Mann aufs tiefste, so total dumm und einfallslos ! Also wenn du trotz all dieser dummen Nachrichten meine noch lesen solltest, würde ich mich freuen, wenn du dich mal meldest !

Das soll nicht heißen, dass nur lange Antworten zum Erfolg führen. Das gleiche gilt übrigens für lange Anzeigentexte. So wie das immer mal wieder ins Netz gestellte Inserat von der "studierten Emanze" aus dem Rheinland, die sich und ihre Wünsche ausführlich charakterisierte

studierte Emanze, kreatives Multitalent, mehrsprachig, aber als Hausfrau oder Dame völlig ungeeignet (benutzt die Bohrmaschine viel öfter als das Bügeleisen), wünscht sich eine eher symbiotische als distanzierte Beziehung mit einem seelenverwandten Lebenspartner: ebenfalls studiert; etwa gleichaltrig; gewollt kinderlos und ohne Haustiere; Nichtraucher; Atheist und auch gegen esoterischen Blödsinn immun; das Gegenteil von einem Macho; partnerschafts- und bindungsfähig, willig, alles fair zu teilen; monogam, treu, loyal, ehrlich, aufrichtig, offen, empathisch, sensibel und eher zurückhaltend, das genaue Gegenteil von Casanova, also kein Anmachertyp und nicht promiskuid (aber aus Überzeugung und nicht mangels Gelegenheit!); ansonsten politisch 68er, links bis grün; Epikureer (aber kein plumper Hedonist!) statt konsumabhängig; intellektuell anspruchsvoll aber materiell bescheiden (Fußball sollte unter seinem Niveau sein!); mehr Zeit als Geld (möglichst Aussteiger oder arbeitslos) und ohne Karrierestreben; keine "gepflegte Erscheinung" (ich finde Krawattenträger lächerlich) sondern eher Typ kleiner bärtiger Rübezahl; ein bißchen Interesse an Psychologie wäre nicht schlecht; unternehmungslustig und reisebegeistert (aber besser wild zelten als Luxushotel); multikulturell interessiert und mit Freude an Folklore/World-Music.

Ich weiß nicht, ob sie gefunden haben, was sie suchen. Aber ganz schlichte Antworten landen garantiert im Papierkorb.

Hallo Uschi, ich habe Dein Bild gesehen und war hin und weg. Mail doch mal. Tschau, Jürgen

ist so eine schlichte Antwort. Jürgen hat sie, so beweist die "Netzmarkt-Flirtshow", auch an Carola, Tanya und Sabine geschickt. Auch ein gewisser Thomas setzt auf Masse.

Hi, du süßes Wesen, ich bin beim Surfen zufällig auf deine Anzeige gestoßen und traute meinen Augen nicht. Und deine Hobbies entsprechen voll den meinen. Ich bin 29, wohne in Düsseldorf und arbeite in der Computerbranche. Meine Freundin hat mich gerade verlassen, weil sie sich immer über meine Arbeitszeiten geärgert hat. Aber ich habe ihr gesagt ...

Was folgt, wird zu intim. Auch Thomas hatte den gleichen Text an Sabine, Carola und Tanya geschickt. Er wusste offensichtlich nicht, dass er allen zugänglich ist. Oft gewählt, aber sicher erfolglos ist auch folgender Standardbrief:

Hallo Uschi, nach den vielen Zuschriften habe ich bestimmt keine Chance mehr. Was muss ich tun, damit du mir (Stefan, 31, einsam in Berlin) antwortest?

Für den Namen Stefan könnte selbstverständlich auch der Name Andrea stehen. Frauen schreiben nur seltener, aber nicht generell besser. Mit dieser Vorbereitung nahm ich all meinen Mut zusammen und schrieb bald die erste Antwort. Übrigens: Kirsten aus D. und Uwe aus K. haben sich nach ihrem ersten Treffen verkracht. Kirsten aus D. musste erkennen, dass Uwe aus K. ein Hallodri ist. Als ich das hörte, dachte ich für einen Moment, dass Spiegelautoren doch mehr wissen. Doch ein paar Tage später griff ich schon zum Telefonhörer.

© Christoph Köster 1999

Die Weltmeister des Selbstlobs

In nackten Zahlen ist das Geschlechterverhältnis im Internet ungerecht. Auf den Seiten mit Kontaktanzeigen inserieren acht- bis zehnmal mehr Männer als Frauen. Damit nicht genug: Frauen sind im Vergleich auch noch regelrecht schreibfaul. Wer als Mann eine mit seriösen Absichten formulierte Kontaktanzeige auf Seiten wie www.date.de oder www.allesliebe.com aufgibt und neben den vor allem über den Server von allesliebe.com verschickten achtzehn Werbemails für Telefonsex-Agenturen und russisch-deutsche Heiratsvermittlungen fünf seriöse Antworten erhält, darf sich schon fast glücklich schätzen. Frauen dagegen dürften mit mindestens 50 Antworten rechnen. Die Obergrenze ist offen und liegt jenseits der 1.000. Mann muss sich also etwas anstrengen, um in der Flut der Antworten aufzufallen.

Aber auch die Anzeige muss auffallen. Wie bei der gedruckten Konkurrenz in Stadtmagazinen oder unter den Selbstlob-WeltmeisterInnen in der Wochenzeitung "Die Zeit" ("Akad., selbstbewusst, attraktiv, in Jeans ebenso sicher wie im Smoking/Abendkleid, aus guter Familie und ansonsten die anzeigenüblichen Attribute") spricht nicht jede Annonce jeden an. Das, umgarnte Leserin, eingewickelter Leser, ist nichts Neues. Doch durch die Internetseiten mit Kontaktanzeigen kann man im Gegensatz zu gedruckten Anzeigen prima scrollen. Mit Maus oder Tastatur sauste ich durch die Annoncen, und das ist eine erheblich sportlichere Tätigkeit als das Überfliegen von Zeitungsseiten. Zumal das Computern auch sämtliche oralen Bedürfnisse weckt. Die Abgeschiedenheit von der realen Außenwelt führt dazu, dass Netizens ständig Zigaretten im Mund haben oder sich Kaltgetränke zuführen. Der lebensverlängernde Netizen-Schnuller mit Himbeergeschmack wäre eine noch zu machende Erfindung. Aber ich schweife ab.

Nach der 15. "Hast Du eine e-m@il für mich"-Überschrift entschied ich mich bei der Anzeigenlektüre für das Zufallsverfahren. Ich überflog die Annoncen von Sabine, Claudia oder Diva in immer schnellerem Tempo und wusste, irgendwann wird mein inzwischen doppelt sehendes Augenpaar schon bei der richtigen hängen bleiben. Ich überlas "Nur Berlin und Umgebung" oder "Schwaben aufgepasst: Schlaflos in Stuttgart". Auch "Wo gibt es sie noch, die richtigen Männer? Vielleicht hier?" weckte kein Interesse.

Ich kann keine generelle Empfehlung für den richtigen Text geben. Aber Katharina schrieb einen. Vielleicht war es nur ein Stichwort. Vielleicht war es auch eines ihrer Hobbies. Vielleicht war es auch die drastische Formulierung "Dumpfbacken zwecklos". Ich fühlte mich jedenfalls herausgefordert, der Puls stieg, die Aufregung wuchs. Ich dachte über eine Pointe nach, machte einen kleinen Witz, wagte eine freche Behauptung und garnierte das Ganze mit einem selbstironischen Schlenker. Nur 60 Minuten später schickte ich eine spontan formulierte, aus vier Sätzen bestehende Mail an Katharina.

Dann begann das Warten auf Antwort. Erst schaute ich nur alle sechs Stunden in der Mailbox nach. Dann verkürzten sich die Intervalle auf drei Stunden. Selbst nachts stand ich auf. Doch es tat sich nichts. Vier Tage und drei Nächte lang. Ich hatte mich wohl überschätzt. Ich wusste noch nicht, mit wie viel Konkurrenz ich es zu tun hatte. Und ich wünschte, jemand hätte den lebensverlängernden Netizen-Schnuller mit Himbeergeschmack schon erfunden. Doch am späten Abend des vierten Tages kam eine Antwort. Katharina hatte angebissen, und ich legte sofort den nächsten Köder. Wird Katharina die Traumfrau sein? Gibt es sie überhaupt? Ich verließ bald die virtuelle Welt und fand mich wieder vor einem Appartementhaus in Hamburg.

© Christoph Köster 1999

Die bittere Pille der Wahrheit

Etwas kam mir gleich seltsam vor. Ich war an diesem lauen Oktoberabend nach Hamburg gefahren, um mein erstes Blind Date hinter mich zu bringen. Katharina hatte eine Kontaktanzeige aufgegeben, ich hatte geantwortet, sie hatte wieder geantwortet. Und im Lauf der folgenden Wochen verging kaum ein Tag, an dem wir uns keine E-Mail schrieben. Eines Tages hatte sie mich eingeladen, gemeinsam mit ihr den Schritt aus der virtuellen Welt in die echte zu wagen und sie in Hamburg zu besuchen. Nun stand ich da vor diesem Wohnblock mit den schätzungsweise 80 Single-Appartements und studierte die Namensschilder auf den Briefkästen.

Ein Blind Date ist natürlich aufregend. Vor allem, wenn es das erste ist. Netizens mit dem halb unernsten und halb echten Bedürfnis, auf dem elektronischen Weg einer baldigen Vermählung entgegenzueilen, tauschen in ihrer Mail-Periode halbe Lebensgeschichten aus. Sie bezirzen sich, flirten, schmeicheln einander und schauen in ihrer Mailbox alle Minuten nach neuen Nachrichten. Aber der Schritt zur ersten Begegnung ist groß. Schluckst Du die rote Pille Wahrheit oder die blaue der aufrecht erhaltenen Illusion, lautet die "Matrix"-Frage. Und die Wahrheit ist meistens bitterer als das liebgewonnene Trugbild.

Umwickelte Leserin, gespannter Leser: Sie wollen wissen, wie ich Katharina überhaupt zum Antworten verleitet habe. Die Tipps, bei der Reaktion auf Kontaktanzeigen im Netz eine kleine Pointe zu setzen und einen selbstironischen Schlenker nicht zu vergessen, erscheinen Ihnen zu vage. Sie fragen mich nach dem Patentrezept, bei der ersten Antwort auf eine Netzkontaktanzeige als einer unter 50, 200 oder tausend überhaupt aufzufallen. Schlicht: Sie wollen endlich alle intimen Einzelheiten wissen. Gut. Doch ich muss Sie warnen. Die Wahrheit ist nicht nur bitter, sondern oft auch witzlos.
Katharina hatte sich als Fluglotsin ausgegeben, die einer E-Mail samt ihrem Verfasser zur Punktlandung verhelfen will. Ich bezeichnete mich im "Betreff" der spontan, also in 60 Minuten verfassten Antwortmail als Pilot im näheren Luftraum. Ich schrieb:

Gestresste Fluglotsin, trotz Mailflut möchte ein Überflieger aus Norddeutschland nur mal eben wissen, ob dieser Service weiterzuempfehlen ist.

Oder ist die Wahrheit doch anders? Hatte Katharina geschrieben:

Vor Typen, die auf blonde Frauen stehen, kann ich mich nicht retten. Bloß ich stehe nicht auf Typen, die auf blonde Frauen stehen. Wenn Du mir gewachsen bist, dann ...?

Oder war das Sabine aus PLZ-Region 27? Egal. Ich fand auch darauf eine Antwort.

Henna-Fabrikant hilft! In einer solchen Situation kann eine Änderung des Typs empfehlenswert sein. Andernfalls kann ich (Fakten, Fakten, Fakten) Mikado.

(Sie denken: Was für ein alberner und strunzdoofer Quargel? Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich diese Antwort sozusagen gelallt und alle Tippfeler im Post lallum elegant mit der neuen Rechtschreibung entschuldigt habe. Außerdem hatte ich gewarnt! Machen Sie doch, was Sie wollen. Spielen Sie mit Ihren Marotten. Verheimlichen Sie nichts. Schreiben Sie, dass sie heimlich Schnecken quälen, unheimlich verheiratet und sowieso beziehungsunfähig sind!) Ende des Einschubs. Zurück nach Hamburg.

Wie gesagt, hatten Katharina und ich inzwischen sogar unsere Mail-Periode hinter uns. Wir hatten uns Gedichte geschrieben (ihre: entzückend und geistreich). Wir hatten uns Lebensgeschichten gemailt (ihre: außerordentlich spannend und voller Abenteuer). Wir hatten unsere Zukunftsvisionen ausgetauscht (ihre: beneidenswert, aber doch nicht ohne Gemeinsamkeiten). Wir hatten uns Fotos geschickt (ihre: bildschön).

Sie können sich vorstellen, wie mir das Herz raste, als sie mich schließlich einlud und ich wenig später vor diesem Wohnblock mit den schätzungsweise 80 Single-Appartements irgendwo in Hamburg die Klingelschilder studierte. Doch wir hatten in der Vorbereitung eine Kleinigkeit vergessen: uns die vollen Namen zu sagen. Als sich der erste Schreck gelegt hatte, klingelte ich mal hier, mal da. Doch nach elf Wohnungsbesichtigungen gab ich auf, warf den Propeller an und flog nach Hause.

© Christoph Köster 1999

Der große Lauschangriff namens ICQ

Als ich ankam, machte ich das, was ich immer mache: Ich schaltete meinen Rechner an (fuhr ihn hoch, ließ ihn starten ...) und ging online. Ich fand fünf Mails von Katharina in meiner Mailbox.

Die erste: Es ist gleich sieben Uhr. Ich bin so gespannt auf unser erstes Treffen und freue mich. Deine Kate ...

Die zweite: Es ist schon fast halb acht. Sag mal, bist du immer so unpünktlich? Katharina ...

Die dritte: Du treulose Tomate! Seit drei Stunden warte ich jetzt schon auf dich, und du lässt dich nicht blicken. Es soll mir eine Lehre sein, jemanden aus dem Internet zu mir nach Hause einzuladen. Und lass dir bloß nicht einfallen, mich noch einmal online zu belästigen! ...

Die vierte, geschickt kurz nach Mitternacht: Liebster Zausel, wahrscheinlich tue ich dir völlig unrecht. Ich habe eben in den Nachrichten von dem Auffahrunfall auf der A 1 gehört. Ich hoffe, dass dir nichts passiert ist und könnte mich ohrfeigen für die Beschimpfung von vorhin. Mit besorgten Grüßen, deine K. ...

Die fünfte, geschrieben um zwei Uhr nachts: Du verdammtes Arschloch, es gilt der Text der vorletzten Mail!

Durch einen etwas ausführlicheren Text (rund 28 Druckseiten) ließ sie sich besänftigen. (Sie fragen: Wieso telefonieren die nicht einfach? Ich antworte: Netizens telefonieren äußerst ungern miteinander.) Katharina schrieb schließlich: Mit ICQ wäre das nicht passiert. Ich: *kratzamkopf*, *räusper*, *verwundertguck* was ist ICQ?

Nur zwei Stunden später hatte ich das zurzeit noch kostenlose Programm (www.icq.com) heruntergeladen und mich angemeldet. ICQ (sprich: I seek you) ist so etwas ähnliches wie die Buddy-Lists von AOL, die auch in neueren Netscape-Versionen enthalten sind, und der freiwillige große Lauschangriff aller echten Netizens. Sie können miteinander ihre ICQ-Nummern austauschen und sehen dann, wann der andere online ist. Wer die auch über ICQ verschickte lästige Werbemail-Plage der Netze in Kauf nimmt, kann auf den "White Pages" nach neuen Partnern für lebenslange Freundschaften Ausschau halten. Auf diesen "White Pages" sind alle Informationen einzusehen, die ICQ-Nutzer über sich preisgeben. Auch Smarty hatte etwas preisgegeben.

In der (niedrigen) Absicht, einen weiblichen Netizen anzubaggern, war ich auf sie gestoßen. Ich suchte in den "White Pages" nach "female" und "Bremen" und fand Smarty. Laut ICQ-Steckbrief hieß Smarty Maria, war 29, interessierte sich für Inline-Skating, Stephen Hawking und Cultural events. Das klang gut. Doch vor allem: Sie lebte in Bremen. In Gedanken an eine Verabredung noch am gleichen Abend (ja, ich war Katharina für einige Stunden untreu geworden), schrieb ich Smarty:

Selbst mit meinem knarzenden Schrottfahrrad überhole ich alle Skater auf dem Wümmedeich. Kannst Du mir verraten, was am Skaten so gut ist, wenn's die Geschwindigkeit nicht ist?

(Solche Fragen werden durchaus beantwortet.)

Eine halbe Minute später kam Smartys erste Message an mich: "???" Was soll das, dachte ich, und war ratlos. Grübelte. Schaute noch einmal in Smartys ICQ-Steckbrief nach, und mir ging ein Licht auf: Ich hatte Kontakt mit einem Menschen aus Bremen, Georgia. Nach diesem anstrengenden Tag war ich nicht mehr zu einem Dialog auf Englisch in der Lage, schrieb nur kurz von hard work und I have to become a plenty of sleep. cu (kurz für: see you) cu and good nite.

Ich träumte von Katharina.

Am nächsten Morgen fuhr ich erneut zu ihr nach Hamburg.

© Christoph Köster 1999

Kinder sind ein teures Hobby

Ich hatte schon lange keine Tramper mehr mitgenommen, aber heute war ich in bester Stimmung. Ich hielt an der Autobahnauffahrt Vahr/Oberneuland und öffnete die Beifahrertür. Der Tramper wollte auch nach Hamburg, stellte sich als Claas vor und gab sein Alter mit 25 Jahren an. Nach den üblichen Konversationsbröckchen ("heute sieht man nicht mehr so viele Tramper", "wir sind früher per Anhalter durch ganz Europa gereist", "Spanien war Scheiße", "Frankreich ist im Hochsommer immer noch Scheiße") erzählte ich von Katharina und dem bevorstehenden Rendezvous. Die gute Laune von Claas verschwand, und für einen Moment wurden seine Züge bitter und traurig zugleich.

"Das Internet ist voller gefährlicher Lügen", sagte er und fragte, ob ich wisse, was mir bevorstehe. Ich antwortete, dass Katharina und ich unsere Lebensgeschichten schon in der Mail-Periode ausgetauscht hätten und mittlerweile sehr vertraut miteinander seien. "Ja", sagte mein Beifahrer und machte ein wissendes Gesicht. Auch er habe sich einmal auf ein Blind Date eingelassen und sei fürchterlich enttäuscht worden. "Von deiner Internet-Bekanntschaft?" wollte ich wissen. "Nein, von mir selbst", gab er philosophisch zurück.

Näheres wollte er nicht erzählen, doch er warnte mich: "Deine Netz-Persönlichkeit unterscheidet sich vollkommen von deiner wirklichen. Auch wenn du glaubst, dich oder den anderen schon zu kennen, wirst du eine Überraschung erleben, und sie könnte böse sein." Ich versprach, bei Gelegenheit darüber nachzudenken und ließ mir nicht anmerken, dass er meine Vorfreude auf die erste Begegnung mit Katharina getrübt hatte. Trotzdem verging die Fahrzeit wie im Fluge. Wir sprachen über Wahrheit und Lüge im Internet. Wir waren uns einig, dass es schnell keinen Spaß mehr macht, in andere Identitäten zu schlüpfen. Das Spiel mit der eigenen sei abenteuerlich genug, sagte ich, und er ergänzte: "Und gefährlich!" Schließlich setzte ich meinen Beifahrer in Eppendorf ab und fragte mich: Wie sehr hatte ich Katharina belogen und wie sehr sie mich? Was wusste ich tatsächlich über sie, und wie gut kannte ich mich selbst?

Mein Herz schlug spürbar bis in die Schläfen. Immer näher rückte der Zeitpunkt unserer Begegnung, und für eine kurze Zeit war ich versucht, einfach umzukehren und das Geheimnis für immer Geheimnis bleiben zu lassen. Doch dann stellte ich mein Auto vor ihrem Haus ab, klingelte und stand wenig später vor ihrer Wohnungstür. Ich hörte Schritte auf einem Parkettfußboden. Katharina öffnete und lächelte. Ich hatte zwar schon Fotos von ihr gesehen. Doch im echten Leben war diese Frau so schön, dass mir schlecht wurde. Ich brachte kein Wort über die Lippen und machte nur Geräusche wie "mmmh" oder "nnnkh". Mit einer rauchzarten Stimme sagte sie: "Irgendwie habe ich Dich mir selbstbewusster vorgestellt." Anstandshalber lud sie mich noch zu einem Kaffee ein, und wenig später endete unsere erste (und letzte) Begegnung.
Nein, so ist es nicht gewesen.

Als Katharina die Wohnungstür aufsperrte, stand ein Wesen vor mir, das mit den gemailten Fotos überhaupt nichts zu tun hatte. Es wollte den Mund öffnen, um ein umfassendes Geständnis abzulegen, doch seinen Worten eilte eine Wolke voraus, der ich rückwärts zu entkommen versuchte. So etwas hatte ich in meinem ganzen durchschnittlichen Leben noch nicht gerochen. Es war, als wären unter dem Druck der Entzündungsherde sämtliche Kronen und Plomben in Katharinas Mund auf einmal abgesprungen (wenn sie überhaupt jemals welche hatte). Ich machte immer schnellere Schritte rückwärts, übersah den Beginn der Treppe, fiel, schlug mit dem Hinterkopf auf einer Betonplatte auf und starb wenig später im Krankenhaus.
Nein, so ist es auch nicht gewesen. Tatsächlich ging die Geschichte folgendermaßen aus.

Katharina und ich fielen uns in die Arme, und wir liebten uns auf dem Flur. Wenig später heirateten wir und mussten unsere Computer in Zahlung geben, weil Kinder ein teures Hobby sind und Fünflinge einem sowieso keine Zeit lassen, im Internet herumzusurfen.

Vorhang.

© Christoph Köster 1999