Die bittere Pille der Wahrheit

Etwas kam mir gleich seltsam vor. Ich war an diesem lauen Oktoberabend nach Hamburg gefahren, um mein erstes Blind Date hinter mich zu bringen. Katharina hatte eine Kontaktanzeige aufgegeben, ich hatte geantwortet, sie hatte wieder geantwortet. Und im Lauf der folgenden Wochen verging kaum ein Tag, an dem wir uns keine E-Mail schrieben. Eines Tages hatte sie mich eingeladen, gemeinsam mit ihr den Schritt aus der virtuellen Welt in die echte zu wagen und sie in Hamburg zu besuchen. Nun stand ich da vor diesem Wohnblock mit den schätzungsweise 80 Single-Appartements und studierte die Namensschilder auf den Briefkästen.

Ein Blind Date ist natürlich aufregend. Vor allem, wenn es das erste ist. Netizens mit dem halb unernsten und halb echten Bedürfnis, auf dem elektronischen Weg einer baldigen Vermählung entgegenzueilen, tauschen in ihrer Mail-Periode halbe Lebensgeschichten aus. Sie bezirzen sich, flirten, schmeicheln einander und schauen in ihrer Mailbox alle Minuten nach neuen Nachrichten. Aber der Schritt zur ersten Begegnung ist groß. Schluckst Du die rote Pille Wahrheit oder die blaue der aufrecht erhaltenen Illusion, lautet die "Matrix"-Frage. Und die Wahrheit ist meistens bitterer als das liebgewonnene Trugbild.

Umwickelte Leserin, gespannter Leser: Sie wollen wissen, wie ich Katharina überhaupt zum Antworten verleitet habe. Die Tipps, bei der Reaktion auf Kontaktanzeigen im Netz eine kleine Pointe zu setzen und einen selbstironischen Schlenker nicht zu vergessen, erscheinen Ihnen zu vage. Sie fragen mich nach dem Patentrezept, bei der ersten Antwort auf eine Netzkontaktanzeige als einer unter 50, 200 oder tausend überhaupt aufzufallen. Schlicht: Sie wollen endlich alle intimen Einzelheiten wissen. Gut. Doch ich muss Sie warnen. Die Wahrheit ist nicht nur bitter, sondern oft auch witzlos.
Katharina hatte sich als Fluglotsin ausgegeben, die einer E-Mail samt ihrem Verfasser zur Punktlandung verhelfen will. Ich bezeichnete mich im "Betreff" der spontan, also in 60 Minuten verfassten Antwortmail als Pilot im näheren Luftraum. Ich schrieb:

Gestresste Fluglotsin, trotz Mailflut möchte ein Überflieger aus Norddeutschland nur mal eben wissen, ob dieser Service weiterzuempfehlen ist.

Oder ist die Wahrheit doch anders? Hatte Katharina geschrieben:

Vor Typen, die auf blonde Frauen stehen, kann ich mich nicht retten. Bloß ich stehe nicht auf Typen, die auf blonde Frauen stehen. Wenn Du mir gewachsen bist, dann ...?

Oder war das Sabine aus PLZ-Region 27? Egal. Ich fand auch darauf eine Antwort.

Henna-Fabrikant hilft! In einer solchen Situation kann eine Änderung des Typs empfehlenswert sein. Andernfalls kann ich (Fakten, Fakten, Fakten) Mikado.

(Sie denken: Was für ein alberner und strunzdoofer Quargel? Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich diese Antwort sozusagen gelallt und alle Tippfeler im Post lallum elegant mit der neuen Rechtschreibung entschuldigt habe. Außerdem hatte ich gewarnt! Machen Sie doch, was Sie wollen. Spielen Sie mit Ihren Marotten. Verheimlichen Sie nichts. Schreiben Sie, dass sie heimlich Schnecken quälen, unheimlich verheiratet und sowieso beziehungsunfähig sind!) Ende des Einschubs. Zurück nach Hamburg.

Wie gesagt, hatten Katharina und ich inzwischen sogar unsere Mail-Periode hinter uns. Wir hatten uns Gedichte geschrieben (ihre: entzückend und geistreich). Wir hatten uns Lebensgeschichten gemailt (ihre: außerordentlich spannend und voller Abenteuer). Wir hatten unsere Zukunftsvisionen ausgetauscht (ihre: beneidenswert, aber doch nicht ohne Gemeinsamkeiten). Wir hatten uns Fotos geschickt (ihre: bildschön).

Sie können sich vorstellen, wie mir das Herz raste, als sie mich schließlich einlud und ich wenig später vor diesem Wohnblock mit den schätzungsweise 80 Single-Appartements irgendwo in Hamburg die Klingelschilder studierte. Doch wir hatten in der Vorbereitung eine Kleinigkeit vergessen: uns die vollen Namen zu sagen. Als sich der erste Schreck gelegt hatte, klingelte ich mal hier, mal da. Doch nach elf Wohnungsbesichtigungen gab ich auf, warf den Propeller an und flog nach Hause.

© Christoph Köster 1999