Ein Kunstraub in 1.500 Fällen

„An einem regennassen Maitag 1997 ...“ So ungefähr hätte der Text anfangen sollen. Denn eigentlich wollte Elfriede Bannas selbst erzählen, wie es war. In ihren eigenen Worten wollte sie schildern, wie sie, die pensionierte Oberschulrätin, zwischen den Bücherregalen im Magazin der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen auf Schatzsuche ging, wie sie in den alten Büchern Spuren der früheren jüdischen Eigentümer entdeckte, wie sie diese Überlebenden in aller Welt ausfindig machte und wie sie eines Tages ein Päckchen mit einer roten Schleife geschenkt bekam und beim Auspacken vor Rührung verstummte.

Einen Titel hatte sie ganz schnell gefunden: „The Homecoming of the Books“ wollte Elfriede Bannas ihre Erinnerungen nennen. Für das Erinnern hat sie sich Zeit genommen. Sie wollte nicht einfach berichten, sondern ihre Gedanken zunächst vorsortieren, in wichtig und unwichtig scheiden und das Wichtige dann aufschreiben. Immer, wenn ein Abschnitt vollendet war, empfing Elfriede Bannas den Autor dieser Zeilen und trug ihm das handschriftlich festgehaltene Ergebnis vor. Stück für Stück fügte sich etwas zusammen, das zugleich eigene Erinnerung und Kulturgeschichte war. So verging ein ganzer Sommer.

Als es Herbst wurde, kam das, was Elfriede Bannas „Kalamitäten“ nennt. Es war kein bedrohliches, aber ein schmerzhaftes Leiden, das ihre Schilderungen erst verlangsamte und dann ganz zum Stocken brachte. Doch die Verträge für die Veröffentlichung waren längst unterschrieben und die Termine längst gemacht. Allein die „Kalamitäten“ und ein Druckunterlagenschluss sind miteinander unvereinbar. Und so liegt es nur an diesen Umständen, dass aus einem Text von Elfriede Bannas ein Text über Elfriede Bannas wurde.

Das Buch mit der roten Schleife

Es war der Morgen ihres Geburtstages. Elfriede Bannas stand am Fenster ihres Hotelzimmers, als sie auf dem Flur jemanden „Happy Birthday“ singen hörte. Es war Irene. Irene Lawford-Hinrichsen. Wenige Jahre zuvor hatten sich die beiden Frauen nicht einmal gekannt, jetzt gingen sie als Freundinnen zusammen auf Reisen. Sie wollten nach Prag.

Irene hatte an diesem Morgen ein Päckchen in der Hand, das in Notenpapier eingeschlagen und mit einer roten Schleife geschmückt war. Mit erwartungsvollem Blick drängte sie ihre Freundin, das Geschenk auszupacken. Elfriede Bannas öffnete die Schleife und entzifferte schon beim Entfernen des Notenpapiers Teile eines Buchtitels: „In 180 ... um die ...“ stand da. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Es war das Buch! Es war Elfriede Bannas ganz persönliches „Jahrhundertbuch“!

Die Literaturkritikerin Iris Radisch hatte diesen Begriff geprägt. „Was ein Jahrhundertbuch ausmacht“, hatte sie kurz vor Weihnachten 1999 in der Wochenzeitung DIE ZEIT geschrieben, „entscheiden nicht die Experten, sondern entscheiden der Wind der Geschichte und des privaten Lebens.“ Dieser Satz hatte Elfriede Bannas aus dem Herzen gesprochen. Und sie hatte auch sofort gewusst, welches Buch ihr „Jahrhundertbuch“ sein würde. Nun, am Morgen ihres Geburtstages, stand sie im Zimmer eines Hotels in der Nähe von Prag und hielt es in den Händen: „In 180 Tagen um die Erde“ von Irenes Onkel Walter Hinrichsen. Es war der Nachdruck der einmaligen Erstausgabe, die unter der Signatur 42 B 177 im Magazinregal der Universitätsbibliothek Bremen einsortiert war und die Elfriede Bannas im Sommer 1991 dort entdeckt hatte.

Das Buch, daran erinnerte sie sich sofort, war auffällig schön. Die Schatulle war aus feinstem marmorierten Leder gefertigt, das Buch selbst in Goldschnitt. Trotzdem war es Elfriede Bannas nicht gleich aufgefallen, als sie in jenem Sommer zum ersten Mal in das Magazin im Kellerhaften Erdgeschoss der Universitätsbibliothek Bremen hinabstieg, um mit ihrer Arbeit zu beginnen. Buch an Buch stand da im Regal. Und unter Hunderten von Büchern kann selbst ein „Jahrhundertbuch“ wie „In 180 Tagen um die Erde“ unauffällig bleiben.

Nun hatte sie es als Nachdruck wieder in der Hand. Sie schlug es auf und blätterte zu den Deck- und Titelblättern zurück. Dann erinnerte sie sich, wie sie damals die handgeschriebene Widmung gefunden hatte: „Meinen lieben Eltern in Dankbarkeit, Weihnachten 1934.“ Und sie erinnerte sich an diesem Geburtstagsmorgen auch an die langen und verschlungenen Wege, auf denen das Buch zu seiner Familie fand. Fast sechs Jahre waren seitdem vergangen.

Münchhausens Liste

An einem frühen Abend im Februar 1991 lief der Fernseher im Hause Elfriede Bannas. Sie sah im Regionalmagazin „buten & binnen“ (hochdeutsch in etwa: „draußen und drinnen“) einen Beitrag über ein Thema, das viele Zuschauer sehr empörte. Elfriede Bannas hörte zunächst nur mit halbem Ohr hin, weil sie mit anderen Dingen beschäftigt war.

Klaus von Münchhausen, ein Bremer Politologe, der sich während der 1990er Jahre für die Entschädigung von ehemaligen Zwangsarbeitern in Deutschland engagieren sollte, hatte der Redaktion eine Liste zugespielt. Buchtitel waren darin eingetragen, und in einer Spalte stand blass die Abkürzung „J.A.“. Die Liste war eine Kopie aus dem Zugangsverzeichnis, Jahrgang 1942, der Bibliothek der Hansestadt Bremen, die in den 1960er Jahren als Staatsbibliothek in der neu gegründeten Universitätsbibliothek aufgegangen ist.

Von Münchhausen glaubte in diesem Februar 1991 fest, dass dieses „J.A.“ für „Judenaktionen“ gestanden hätte und die Liste einen handfesten Skandal enthüllte: dass nämlich auch fünf Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer geraubte Bücher in der Bremer Bibliothek stünden. (...)

Auf den Spuren der Eigentümer